Eigentlich dachten wir, wir hätten bei unserer Ältesten alles richtig gemacht. Da sie nur knapp einen Monat nach dem Einschulungsstichtag geboren war, hatten wir uns auch auf Anraten des Kindergartens entschieden, “Älteste 6*” mit fünf Jahren und 10 Monaten einschulen zu lassen. Die kleine private Grundschule in unserer Nachbarstadt gefiel uns gut und in kleinen Klassen mit höchstens 21 Schülern sollte das Lernen auch für ein recht junges Kind gut klappen. Die ersten Wochen liefen prima. Unsere Tochter freute sich jeden Tag auf die Schule und lernte sehr schnell. In ihrer Klasse fühlte sie sich wohl. Beim ersten Elternsprechtag gab es keine Klagen von Seiten der Klassenlehrerin. Also alles soweit gut – wenn da nicht die Hausaufgaben gewesen wären.
Jeden Tag ein neuer Kampf um die Hausaufgaben
Hausaufgaben wurden nach ein paar Wochen zum Problem. Egal ob Mathe oder Deutsch, jeden Tag gab es Diskussionen. Am Schreibtisch in ihrem Zimmer passierte nichts. Unter Aufsicht am Esstisch war es etwas besser. Aber selbst die einfachsten Aufgaben dauerten ewig und Hausaufgaben, die höchstens 20 Minuten hätten dauern sollen, waren auch nach einer Stunde noch nicht fertig. Dazu kam, dass Aufgaben, die am Vortag noch problemlos geklappt hatten, plötzlich voller Fehler waren.
Bei manchen Aufgaben verstanden wir die Frustration. Nicht jedes Kind malt gern aus. So durfte dann auch schonmal die kleine Schwester ran, wenn es wieder Felder mit dem neu gelernten Buchstaben auszumalen gab. Bei anderen Aufgaben waren wir weniger nachsichtig. Die Grundrechenarten im Bereich bis 20 sollte nun mal wirklich jedes Kind ausreichend üben, denn wie sollte es sonst mit größeren Zahlen klappen?
Ein Aha-Moment…
“Wie sieht es eigentlich mit Geschwisterkindern aus?” fragte uns die Begabten-Beraterin, der wir ein paar Monate später unsere mittlere Tochter vorstellten. “Unsere Älteste geht in die erste Klasse und wurde etwas früher eingeschult – so wie sie sich mit den Hausaufgaben anstellt, scheint das gerade ganz gut zu passen”, antwortete meine Frau. “Hmm, Ärger mit den Hausaufgaben, erzählen sie mir mehr…”.
Und dann stellte sich ziemlich schnell heraus, dass die Probleme bei den Hausaufgaben keineswegs etwas mit Überforderung zu tun hatten. Älteste 6 langweilte sich einfach schrecklich , weil ihr alles viel zu einfach war.
Das Gehirn schaltet bei den Hausaufgaben ab
Im Gegensatz zu vielen Kindern, die zwar oberhalb des Durchschnitts, aber Unterhalb der Schwelle zur Hochbegabung angesiedelt sind, haben Hochbegabte meistens keinen starken Lernantrieb. Während ein “schlaues” Kind sich schwierigere Lerninhalte erarbeitet, passiert bei hochbegabten Kindern oft das Gegenteil. Die Aufgaben sind zu leicht, das Gehirn schaltet sozusagen in den Energiesparmodus und es klappt nichts mehr.
Gerade bei Aufgaben mit vielen Wiederholungen zeigt sich das besonders auffällig. Statt durch mehr Üben besser zu werden, entstehen plötzlich Fehler bei Aufgaben, die das Kind gerade noch perfekt beherrscht hat. Oft führt das zu der Fehleinschätzung, das Kind müsse wohl noch mehr üben und so wird alles nur noch schlimmer.
Äußert das Kind in der Schule, von den Aufgaben gelangweilt zu sein, bieten Lehrer, die wenig oder keine Erfahrung mit Hochbegabten haben, gern schwierigere Aufgaben an. Sie wundern sich dann, das das Kind trotzdem die einfachen Aufgaben wählt. Durch die geringe Lernmotivation wählen die meisten hochbegabten Kinder aber instinktiv den Weg des geringsten Widerstandes. Daher melden sie sich nur sehr selten freiwillig für schwierigere Aufgaben. Erfahrene Lehrer und Eltern teilen daher die schwereren Aufgaben zu und bieten sie nicht als freiwillige Option an.
Wo ist das Problem?
Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass sich das Hausaufgabendrama eine Weile aushalten lässt und das Kind ja sonst in der Schule gut mitkommt. Dabei sollte man jedoch eine große Gefahr nicht unterschätzen. Wenn kein aktives Gegensteuern durch Herausforderungen an das Kind erfolgt, kann das dazu führen, dass es in den ersten Schuljahren nicht lernt, sich geistig anzustrengen.
Bis zur weiterführenden Schule geht das oft gut, aber irgendwann kommt der Punkt, wo auch ein hochbegabtes Kind nicht ohne Üben weiterkommt. Hat es das bis dahin nicht gelernt, führen die daraus resultierenden Misserfolge oft zu Zweifeln an der eigenen Intelligenz und nicht selten zu andauerndem schulischem Versagen.
Daher ist es sehr wichtig, dass Eltern sich bei Hausaufgabenproblemen sehr genau ansehen, ob vielleicht eine Unterforderung vorliegen könnte. So können sie frühzeitig das Gespräch mit den Lehrern suchen. Leider kommt das Thema Hochbegabung in der Lehrerausbildung bisher kaum vor. Der Fokus liegt sehr auf der Förderung weniger begabter Kinder. Daher ist es, wenn der “Verdacht” einer Hochbegabung vorliegt, durchaus ratsam, sich an entsprechend qualifizierte Fachleute zu wenden. Nähere Informationen gibt es zum Beispiel bei der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind.
Wie es weiterging
Wie es mit unserer Tochter weiterging? Nachdem die Hochbegabung als Ursache für die Hausaufgabenthematik im Raum stand, ließen wir sie bei einer fachkundigen Beraterin testen. Mit dem sehr eindeutigen Ergebnis setzten wir uns mit der Schule zusammen und entschieden, sie sechs Wochen vor Schuljahresende in die zweite Klasse springen zu lassen. Diesen Schritt haben wir nicht einen einzigen Tag bereut. Vom ersten Tag in der neuen Klasse an war sie viel motivierter und glücklicher und macht heute in den meisten Fällen die Hausaufgaben ohne Murren – und welchen Kind meckert nicht ab und zu mal über die Hausaufgaben…? 🙂
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